„Können wir das nicht anders machen?“,
würde wohl das Leitbild von Pierre Cardin lauten, wenn man es als Frage formuliert hätte. In dieser Frage, die der Designer sehr oft grundsätzlich gestellt hat, steckt sein revolutionärer Geist. Pierre Cardin kam, sah und stellte auf den Kopf – und zwar nicht nur die gängige Mode, sondern die ganze Branche und letztendlich Gesellschaften auf dem gesamten Globus.
Lange vor seiner Weltreise als renommierter Designer, der neben Staatschefs wie Gorbatschow oder Fidel Castro sogar dem Papst die Hand schütteln durfte, ging es für Pierre Cardin zunächst von Italien nach Frankreich. Geboren im Jahr 1922 als Pietro Costante Cardin im venetischen Dorf San Biagio di Callalta war er eins von neun Kindern einer armen Winzer-Familie. Schon in sehr jungem Alter mussten Pietros ältere Geschwister in der italienischen Sonne die körperlichen Lasten des Bauernlebens auf sich nehmen. Auch Pietro drohte dieses Schicksal, bis Mussolinis Regime an die Macht kam. Im Jahr 1924 floh die Familie vor dem Faschismus nach Frankreich, wo aus dem bambino Pietro le petit Pierre wurde.
Besonders viel Privates weiß man über den Ausnahmedesigner, der gerne geheimnisvoll blieb, nicht. Deswegen existiert auch keine Pierre-Cardin-Biografie. Laut eigener Aussage war sein Weg bestimmt, schon als Kind nähte er Kleider für Puppen. Mit 14 beantwortete er in der Schule die Frage nach dem Berufswunsch mit „Modedesigner“, ohne zu wissen, was das wirklich bedeuten würde. Zwei Jahre später verließ er sein Familie, um seinen Weg zu gehen, der ihn nach Paris führte. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete er für das französische Rote Kreuz, wo er das Schneidern lernte. Da sich auch hier sein Talent bestätigte, wurde er auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber schnell fündig: Im Modehaus PAQUIN entwarf das Nachwuchstalent Kostüme für das Theaterstück Die Schöne und das Biest.
Ohne Schulbildung, aber dafür voller Elan und Tatendrang, schaffte es Pierre Cardin, bei Christian Dior unterzukommen, mit dem 1947 in enger Zusammenarbeit das Projekt „New Look“ entstand. Der neue Look stand für abgerundete Schultern und extrem weite, in der Taille eng geraffte Röcke. Auch diese Mode sollte Cardin später auf den Kopf stellen, er trennte sich von Dior im Rahmen seiner eigenen Emanzipation. Cardin liebte schon immer die Freiheit und wollte sich in seiner Entfaltung nicht mehr einschränken lassen. Zudem fühlte er sich zu Höherem berufen und hörte sich schon die erste Geige spielen. So dauerte es nicht lange, bis er 1954 seine erste eigene Kollektion veröffentlichte und vier Jahre später mit dem Bubble Dress für Aufsehen sorgte.
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Vielfältiger Visionär und demokratischer Designer
Auch im nächsten Jahrzehnt hielt Cardin keine Innovation zurück. Trotz großen Protests brachte er die Pariser Haute Couture auf die Straße und kreierte nun Mode für jede Frau. Was vorher der High Society vorbehalten war, sollte nun einer deutlich größeren Schicht zugänglich sein. „Wozu etwas entwerfen, das abseits des Laufstegs niemand trägt?“, fragte Cardin und demokratisierte damit die Modebranche. Die elitären Häuser der Haute Couture distanzierten sich daraufhin von dem vermeintlichen Rebellen. Seine Modenschauen durften fortan nicht mehr zur selben Zeit stattfinden wie die der Häuser, welche durch den Pariser Modeverband Chambre Syndicale de la Haute Couture offiziell berechtigt waren, sich als Haute Couture zu bezeichnen. Cardin galt plötzlich als erster Sozialist der Modebranche, der gefühlt ganz Paris gegen sich hatte. Aus seinem alten Freund Yves Saint Laurent wurde ein neuer Feind.
„Ich bin nie mit der Mode gegangen. Ich habe sie gemacht.“
Schaut man auf die Karriere von Pierre Cardin aus der Distanz, entpuppt sich diese viel eher als Evolution. Denn es waren echte Modernisierungen, keine temporären Umstürze, die der Modeschöpfer anstrebte. Was er veränderte, blieb und entwickelte sich weiter. So entstanden auf seinem Weg viele Meilensteine der Mode, die nachhaltig wirkten. So war es Cardin, der als erster Designer eine Männerkollektion entwarf und so für einen weiteren Skandal sorgte. Während die Anzugträger der damaligen Modebranche mit dem Kopf schüttelten und sich die Szene größtenteils von ihm abwandte, engagierte er Studenten, die sich dazu bereit erklärten, seine Entwürfe zu präsentieren. Sogar Cardin selbst machte sich kurzerhand zum Model und genoss es als großer Theaterfan, in eine neue Rolle zu schlüpfen. Wenn man auf sich allein gestellt ist, müsse man den Mut haben, Entscheidungen zu treffen.
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Internationalen Einfluss gewann Cardin aber vor allem mit Diversifikation bei der Wahl seiner Models. Vor ihm war noch kein Designer nach Japan geflogen, um Models zu finden. Generell wagte es zuvor niemand, in Asien Mode zu machen. China hatte gerade die Kulturrevolution hinter sich, und in der Sowjetunion trug man auch nur Uniformen. Mit den Schnitten und Linien in seiner Mode eröffnete er als Botschafter der Mode in diesen homogenen Gesellschaften eine ganz neue Welt. Die Bilder seiner Modenschau auf der chinesischen Mauer gingen um die ganze Welt.
Abgesehen davon, dass Cardin seine Kollektionen auch von asiatischen und schwarzen Models präsentieren ließ, wirkte der Feminist auch der Sexualisierung von Frauen durch Mode entgegen. Er befreite weibliche Körper durch den Verzicht auf steife Schultern und enge Taille, in die sich die Trägerinnen zwängen mussten. Seine lockeren und vergleichsweise weiten Silhouetten betonten nicht mehr die weibliche Figur und boten so nicht nur Bewegungsfreiheit, sondern auch Freiheit aus geschlechterpolitischer Perspektive. Diese Freiheit erhöhte das Selbstbewusstsein vieler Frauen und würde heutzutage wohl den Hashtag #empowerment bekommen.
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Future Fashion and Furniture
Der Schüler Cardins, Jean Paul Gaultier, sagte einst über seinen ersten Arbeitgeber: „Dank Pierre Cardin weiß ich, dass alles möglich ist.“ Das schien Cardin schon lange bewusst gewesen zu sein, denn zwischen Autos und Flugzeugen gab es nichts, das der Visionär nicht schon designt hätte. Zumindest hat er vielen wertvollen, ansehnlichen Dingen seine Handschrift verpasst und so dafür gesorgt, dass sein Name niemandem unbekannt blieb. So ist es fast nicht mehr verwunderlich, dass Schüler bei einem Test auf die Frage nach dem französischen Präsidenten „Pierre Cardin“ in das Antwortfeld schrieben.
In den 1970er und 80ern wurde auch die Brillenbranche nicht von Cardins avantgardistischem Anstrich verschont. Der war ehrlich gesagt aber dringend nötig. Denn vor Cardin waren nur schwarze und goldene Brillengestelle zu sehen, das höchste der Gefühle war die Kombination aus beiden Farben. Erst die futuristischen Pierre Cardin Sonnenbrillen und Pierre Cardin Brillen brachten einen neuen Schwung in die Welt der Optik. Welche Formen und Farben gerade am Brillenfirmament waren, tangierte den Disruptor nur peripher. Denn seine Entwürfe schwebten in ganz anderen Sphären über den Dingen. Dass heute beliebte Exemplare mit dem PC-Logo Evolution 5 oder Evolution 6 heißen, kommt nicht von ungefähr.
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Die Möbel von Pierre Cardin sind ebenfalls out of space. Dieses Standbein war für Cardin monetär nicht von Bedeutung, weil seine Kreationen eher als Sammlerstücke gelten als einen alltäglichen Nutzen zu haben. Aber das Entwerfen von Pierre-Cardin-Home-Kollektionen diente ihm als weitere Möglichkeit, sich auszudrücken – und das bedeutete ihm die Welt. Er genoss jede Ausstellung seines Mobiliars und als seine größte Ehrung nennt Cardin die Aufnahme in die Académie des Beaux-Arts (in der Kategorie Fauteuil).
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Es folgten Parfüm, Handtücher und alle möglichen Gebrauchsgüter für den Haushalt. Sogar ein eigenes Theater hatte Cardin, in dem er unbekannten Regisseuren und Darstellern die Chance gab, groß rauszukommen. Das weltberühmte Restaurant Maxim’s wurde erst nach Cardins Einstieg zur Kette. Eine der letzten Ideen des alten, aber unermüdlichen Großdenkers des Designs war ein Turm in Venedig, den er jedoch nicht mehr realisieren konnte. Pierre Cardin wollte unbedingt 100 Jahre alt werden, zwei haben ihm gefehlt. Vor einer Woche verstarb er mit 98 Jahren in Neuilly-sur-Seine.
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